Der Wandel der biblischen Geschichte von Babel
Die Geschichte von Weiterentwicklung, von Geradlinigkeit und Wohlbehagen ist auch eine Geschichte von Rückentwicklung, von Winkelzügigkeit und Unbehagen.
Eine Welt, in der die Globalisierung exzessiv vorangetrieben wird, in der bald jedes Kaff glasfaserverkabelt sein und es zu einer Medienübersättigung aller Lebensbereiche kommen wird, verkehrt sich die biblische Geschichte von Babel ins Gegenteil. Laut diesem Mythos wurde die Welt dazumal in unabhängige, regionale kulturelle Enklaven geteilt, von denen jede ihre eigene Integrität hatte. Wichtigkeiten und Werte waren fest umrissen, in der gleichen Sprache, in einer kollektiven Tradition und einer bestimmten vereinbarten Anzahl von Glaubensgesinnungen verankert.
Die treibenden Kräfte der weltweit erfolgten Annexionen, des Kapitalismus, der Globalisierung, des Marktes u. a. haben all diese lokalen Kulturen vernichtet und sie durch kitschige profitorientierte Produkte und flache Massenunterhaltungen ersetzt.
Aber ist es nicht einfach so, dass die Menschen all das so wollen? Und macht die Aushöhlung regionaler Traditionen und Bräuche die Menschen nicht freier und beweglicher und bringt sie nicht neue und spannende Ausdrucksformen hervor? Ist es nicht besser, in einer Welt unzähliger Neuheiten und üppiger Auswahl zu leben, als in einem Zustand der Beschränkung und der Langeweile wie unsere bedauernswerten Vorfahren zu bleiben?
Möglicherweise ist das so, und es scheint so, als hätten wir ohnedies keine Wahl. – In liberalen Konsumgesellschaften ist die Lösung immer die gleiche: mehr und noch mehr.
Manfred Pichler