Die Medienordnung als Naturgarten freier Äußerungen?

Manch einer stellt sich die aktuelle Medienordnung als einen Naturgarten freier Äußerungen vor, als einen von Gewohnheiten und Rangordnung befreiten Bereich, in dem die Erörterung von Themen durch eine engagierte Öffentlichkeit an die Stelle des mumifizierten Wissens arroganter Experten und suspekter Fachleute getreten ist.

Aber ist das so? Gibt es heute anstelle von Schreibenden und Lesenden, deren Beziehungen früher durch Redakteure, Verleger, Buchhändler u. a. erheblich beeinflusst waren, wirklich eine eingeschworene Gemeinschaft von befreundeten Followern, die sich durch die wohlwollenden und selbstlosen Aktivitäten des Likens und Sharens regelmäßig verbinden und uns durch ihre Handlungsempfehlungen, Lösungsvorschläge  und Kommentare nicht nur bei der Erforschung unserer Vorlieben helfen? Ist die Macht jener, die meinen, zu wissen, was richtig und wichtig sei, wirklich vom Winde verweht worden und ist die Kultur wirklich demokratischer und individualistischer geworden?

Ich meine, nein! Die organisierte Verbreitung von Informationen und Ideen durch die bewährten Mittel der Veröffentlichung hat eine vernichtende Niederlage durch Chaos und Stümperei erlitten. Wo früher Höflichkeit war, werden heute Gift und Galle gespuckt. Statt ehrlicher direkter Auseinandersetzungen gibt es heute oft vorgetäuschte Herzlichkeit oder Cybermobbing. Es ist Usus geworden, dass wir es uns Online gemütlich machen, in den Echo-Chambers der Übereinstimmung, aus denen wir uns immer öfter wegschleichen, um auf den Kontaktseiten oder den Web-Feeds unserer Gegner gehässige Botschaften zu hinterlassen.

Manfred Pichler